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10.12.2025

Mit Gebärdensprachdolmetscherin zur Museumsführung: Gehörlose haben auch Anspruch auf Teilhabe

Gehörlose Menschen haben nicht nur bei besonderen Anlässen einen Anspruch auf Hilfen durch Gebärdensprachdolmetscher, sondern auch bei allgemeinen Erledigungen des Alltags, zum Beispiel kulturellen Veranstaltungen, erforderlichen Vorsprachen bei Banken oder Gesprächen mit Ärzten anlässlich der Erkrankung der Mutter. Das stellt das Sozialgericht (SG) Berlin klar.

Eine gehörlose, berufstätige Frau beantragte beim Sozialamt ihres Bezirkes Leistungen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, konkret für Gebärdensprachdolmetscherdienste. Unter anderem trug sie vor, hierauf nicht nur bei Arztbesuchen und Behördengängen angewiesen zu sein, sondern zum Beispiel auch bei Beratungsgesprächen mit der Bank oder bei der Teilnahme an Führungen oder Vorlesungen.

Das Sozialamt lehnte den Antrag ab: Leistungen zur Förderung der Verständigung würden nur aus besonderem Anlass erbracht. Die Frau klagte. Sie listete eine Reihe von Veranstaltungen auf, bei denen sie zwischenzeitlich die Dienste einer Dolmetscherin in Anspruch habe nehmen müssen, so zum Beispiel bei Führungen im Humboldt-Forum und im ehemaligen Flughafen Tegel, bei einer Beratung ihres Mietervereins, aber auch bei Telefonaten und Gesprächen mit dem Krankenhaus anlässlich der Erkrankung ihrer Mutter. Für die bei derartigen Anlässen entstandenen und zukünftig entstehenden Dolmetscherkosten müsse das Sozialamt aufkommen.

Das SG Berlin hat der Klage stattgegeben. Die gehörlose Frau habe nicht nur aus besonderem Anlass Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscherleistungen, sondern auch im Alltag, und zwar in einem angemessenen Umfang von acht Stunden im Monat. Die Dolmetscherdienste seien notwendig, um ihr einen selbstbestimmten Alltag und die Gestaltung sozialer Beziehungen und Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Die Frau habe insoweit in der mündlichen Verhandlung eindrücklich die ihr widerfahrene Alltagsdiskriminierung geschildert. Immer wieder komme sie in Situationen, in denen sie ohne Hilfe eines Dolmetschers an Grenzen stoße oder nicht ernst genommen werde.

Der Anspruch ergebe sich aus § 78 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – SGB IX (Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen), so das SG Berlin. Danach würden Leistungen für Assistenz zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags erbracht. Diese beinhalteten auch die Verständigung mit der Umwelt bei allgemeinen Erledigungen des Alltags.

Der Umstand, dass § 82 SGB IX ausdrücklich Hilfen durch Gebärdendolmetscher vorsehe, um Berechtigten mit Hör- und Sprachbehinderungen die Verständigung mit der Umwelt aus besonderem Anlass zu ermöglichen, schließe die Anwendung von § 78 – anders als das Sozialamt meine – nicht aus. Das ergebe sich schon aus der Gesetzesbegründung. Der Gesetzgeber selbst habe Gebärdensprachdolmetscherdienste nicht nur für besondere Anlässe vorgesehen, sondern ausgeführt, dass für die Bewältigung des Alltags auch Leistungen der Assistenz nach § 78 in Betracht kommen. Auch das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg meine, dass beide Vorschriften nebeneinander anwendbar seien.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann mit der Berufung zum LSG Berlin-Brandenburg angegriffen werden.

Sozialgericht Berlin, Urteil vom 17.10.2025, S 195 SO 2156/23, nicht rechtskräftig